Die Entstehung des Blutritts

Da Abt Walicho und sein Konvent die Reliquie am 31. Mai 1090, am Freitag nach Christi Himmelfahrt, übergeben erhielten, sei, so heißt es, zur Erinnerung daran der Heilig-Blut-Ritt entstanden. Diese Deutung hat etwas Ungewöhnliches an sich, entspricht aber den Tatsachen: Die Reliquie wurde an diesem Tag dem Kloster schriftlich, testamentarisch vermacht, aber erst anlässlich des Todes von Judith von Flandern (5. März 1094) dem Stift geschenkt.

Es kann aber auch sein, dass der Blutfreitag vom sogenannten Schauerfreitag ausgegangen ist. Dies besagt, die Bauern hätten am Himmelfahrtstag im Evangelium den Ausspruch Christi gehört: "Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel wie auf Erden." Und nun sagten sie sich, wenn Christus jegliche Macht besitzt, dann soll er uns und unseren Tieren helfen, für gutes Wachstum sorgen und verderbliches Unwetter fernhalten. Und deshalb hätten die Landleute, ihre Pfarrer mehr oder weniger gezwungen, am darauffolgenden Freitag mit dem Allerheiligsten in der Monstranz um die Felder zu ziehen und diese zu segnen, um feindliche Mächte abzuwehren. Diese Umgänge seien zwar im 15. und 16. Jahrhundert allgemein wieder verboten worden, Weingarten aber hätte seine Heilig-Blut-Reliquie besessen, und ein Priester sei mit ihr um das Gebiet geritten. Nun war dies ein schon für die Karolingerzeit nachgewiesener Brauch, dass ein Priester mit der Heiligen Hostie in der Bursa, der linnen-seidenen Tasche, auf der Brust um das Pfarreigebiet mit dem Mesner ritt. Dies ist auch für Beromünster/Kanton Luzern bezeugt. Am Ende des 15. Jahrhunderts schlossen sich diesen beiden, dem Pfarrer und Mesner, am Himmelfahrtstag, ebenfalls zu Pferd und aus Frömmigkeit, andere aus der Gemeinde an. So entstand der heute noch bestehende Ritt mit dem Allerheiligsten in der Monstranz. In Weingarten dürfte es ähnlich gewesen sein.

Auch aus dem Umritt oder Umgang um die Gemeindemarkung kann der Ritt abgeleitet werden. Er geht auf das Heidentum zurück. Es sei nur an die Verehrung des Jupiter Terminus, des Gottes der Grenze, dem alle Grenzsteine geheiligt waren, erinnert.

Zu den Grenzsteinen und um sie herum zogen jährlich im Frühjahr die Menschen, und sie brachten Opfer dar, damit die Grenzen immer in Erinnerung gehalten und ihre Verletzung als ein Frevel gegen die Götter betrachtet würde. Damit sollte auch der Krieg gebannt werden. Da die Grenzsteine auch die Ländereien der einzelnen Bürger voneinander schieden, sollte ihre Unverletzlichkeit Frieden im Innern bewirken. Bis ins 17. Jahrhundert war in Weingarten mit dem Heilig-Blut-Ritt eine Grenzumgehung verbunden. Väter mit ihren volljährig gewordenen Söhnen zogen um das Gebiet herum und erteilten an markanten Punkten ihren Sprösslingen Ohrfeigen, damit jene im späten Alter sich noch daran erinnerten, an welchem Platz sie "markiert" worden waren. Auffallend ist, dass diese Sitte in der Schweiz sogar bis ins 19. und 20. Jahrhundert geübt wurde und dass noch heute in Baselland und in der Gegend um Würzburg in der gleichen Woche, in der in Weingarten der Heilig-Blut-Ritt stattfindet, die Lehrer mit ihren Schülern ums Gebiet ziehen und nach den Grenzsteinen schauen, allerdings dabei keine Ohrfeigen mehr erteilen, sondern die Schüler nur auf die Grenzsteine setzen. Auch in manchen Teilen Württembergs ließ sich der Brauch, eine Ohrfeige beim Setzen von Grenzsteinen zu geben, bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein nachweisen. Die Ohrfeige sollte Erinnerungszeichen sein. Sie ist z.B. auch in der Weingartener Liederhandschrift im Bild bei Herrn Raute dargestellt; der Dichter übergibt dem vor ihm stehenden Boten einen Brief (es ist ein leeres Spruchband). Damit dieser seinen Auftrag richtig erledigt, das Schreiben der Empfängerin aushändigt, holt der Dichter zur Ohrfeige aus.

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass allerorten am Freitag nach Christi Himmelfahrt Prozessionen stattfanden. So zogen z.B. die Mönche des Benediktinerklosters Mehrerau in Bregenz während der Barockzeit an die Bregenzerach. Dabei segnete der Prior das Wasser mit einem Kreuz und senkte es in die Fluten, darum bittend, Gott möge Felder, Wälder, Weingärten, Gebäude, Mensch und Tier vor jedem Unglück durch Wasser bewahren.

Auszug aus "Die Basilika Weingarten" von Gebhard Spahr, Verlag Thorbecke